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ALLES EINE FRAGE DER INTERPRETATION

Immer wieder stellt sich in Gesprächen heraus, dass Menschen die blumige, idyllische Vorstellung haben, dass ich – ob bei der Vorbereitung von Seminaren und Vorträgen, beim Verfassen von Texten oder auf der Suche nach passgenauen Lösungsideen für Consultings – in herrlicher Landschaft sitze und mich vom Blick in die Weite inspirieren lasse.

Ich möchte ungern jemanden enttäuschen, doch die Wirklichkeit sieht ein kleines bisschen anders aus… Ja, mir fallen tatsächlich viele Ideen in der Natur ein – ob am Meer, im Gebirge oder im Park. Doch die meisten Einfälle habe ich ganz unspektakulär an meinem Schreibtisch und dort vollzieht sich auch das „nach den richtigen Worten Suchen“

Die Vorstellung, dass ich irgendwo in der Natur arbeite und dort im wahrsten Sinn des Wortes aussichtsreiche Ideen kreiere, ist sicherlich einerseits mit der Assoziation zu meinem Wohnort Garmisch-Partenkirchen verbunden und andererseits mit einer Wunschvorstellung – beides hat für mich keine negative Konsequenz. Doch nicht selten führen fiktive Vorstellungen, scheinbare Gewissheiten und Assoziationen bezüglich Menschen, Teams, Abteilungen oder Situationen zu Vorurteilen, Stereotypen/Schubladendenken, Missverständnissen bis hin zu Konflikten.

Doch warum ist das so? Ein Hauptgrund liegt in unseren Interpretationen. Und ob wir wollen oder nicht: Wir interpretieren immer. Das ist erst mal nichts Schlimmes, vielmehr sind Interpretationen und andere kognitive Muster hilfreich, um schnell, sicher und adäquat reagieren zu können und kognitive Ressourcen im Gehirn zu „sparen“.

Diese kognitiven Muster werden durch Erfahrungen aufgebaut, emotional im Gehirn verankert und auch auf neue Situationen angewendet. Das hat wiederrum zur Folge, dass wir unseren Mustern treu bleiben und nur ungern den Blickwinkel, die eingefahrene Meinung oder das Vorurteil möglichst wertneutral betrachten und ändern. Denn warum einen Trampelpfad benutzen, wenn es auch eine gut ausgebaute Autobahn gibt, auf der man sich schon bestens auskennt? Ein Grund ist, dass der Trampelpfad neue Sichtweisen, Alternativrouten und Ziele ermöglicht und dadurch der eigene Ressourcenpool erweitert wird.

Sie argumentieren, „aber auf der Autobahn geht es schneller?“ Richtig! Doch je häufiger Trampelpfade benutzt werden, umso breiter und komfortabler werden sie und können zu einem Weg, einer Straße und dann zu einer Autobahn werden. Das alles ist nicht nur aus der Hirnforschung bekannt, die in diesem Zusammenhang auch von einem neuronalen Netzwerk spricht. Die Trampelpfad-Nutzer unter Ihnen wissen es zu schätzen, immer wieder bewusst die nächste Autobahnabfahrt zu nehmen und damit die vorhandenen Denkmuster zu hinterfragen und neue zu entdecken. Dann wird einem auch schnell klar, dass eine Interpretation immer etwas von mir ist und nicht unbedingt dem objektiven Tatbestand entsprechen muss.

Falls Sie sich am Ende dieses Textes fragen, wo dieser geschrieben wurde? Natürlich im Hochgebirge bei herrlichem Sonnenschein. Und ja, gerade kommt der Ziegenpeter mit seinen Geißen vorbei und bringt mir eine Brotzeit …

 

PS: Inhaltlich passend sind die Blogbeiträge Nr. 10 „Mal ganz sachlich betrachtet“ und  Nr. 6 „Gut gemeint“

© 01. Dezember 2020 | Von Jessica Schäfer

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